Eine Demokratie ist nicht selbstverständlich
Eine Demokratie ist nicht selbstverständlich.
Ein Blick in die deutsche Geschichte zeigt, wie vergleichbar kurz die Zeitspanne ist, in welcher wir in einer Demokratie leben. 1871 bis 1918 die Zeit des Deutschen Kaiserreichs, dann die kurze Zeit der Weimarer Republik, bis 1945 die Zeit des Terrors der Nationalsozialisten, die Teilung Deutschlands in Ost und West. 1990 dann die deutsche Wiedervereinigung. Und dies ist nur ein Blick zurück in die deutsche Geschichte bis 1871.
Ein Blick in die Welt offenbart das Folgende: 54 Prozent aller Staaten dieser Erde gelten als eingeschränkt frei oder unfrei. In Summe sind dies 95 Staaten auf der Erde. Nur 46 Prozent gelten als frei. Diese Aussage stammt von der Bundeszentrale für politische Bildung und Freedom House. Die Aussage ist bereits etwas älter. 2012 und 2013 wurden diese Ergebnisse visualisiert und der Öffentlichkeit präsentiert. Leider hat sich aber seit 2012 und 2013 nicht viel zum Positiven geändert. Eher das Gegenteil ist der Fall. Natürlich muss man solche Daten und Erhebungen immer mit Vorsicht nutzen und sich immer bewusst sein, dass viele dieser Daten durch u.a. eine eurozentristische Brille „erhoben“ werden. Dennoch wird die grundsätzliche IST-Situation klar. Demokratische Strukturen und Regierungssysteme sind im weltweiten Vergleich nicht die Regel.
Aber auch in Demokratien existieren mannigfaltige Herausforderungen. Die wahre Demokratie ist ein Idealzustand, welchen wir vermutlich niemals zu 100 Prozent erreichen werden. Dennoch lohnt sich der demokratische Einsatz, denn die Demokratie ist zwar die schwierigste gleichzeitig aber auch die beste Staatsform, welche wir kennen.
Wissen um die Vergangenheit schärft das Bewusstsein für die Gegenwart oder anders ausgedrückt: Wer nichts aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernt, verspielt die Zukunft.
Demokratische Strukturen werden jeden Tag angegriffen, von außen und von Innen. Die Demokratie muss jeden Tag verteidigt und neu „erkämpft“ werden. Demokratie braucht den mündigen und kritischen Bürger.
Demokratie ist nicht selbstverständlich.
Mir geht es primär nicht um Corona, mir geht es nicht um den Impfstatus, mir geht es nicht um den Ukrainekrieg. Mir geht es um den gesellschaftlichen Umgang miteinander. Wie geht eine Gesellschaft mit Andersdenkenden und vermeintlichen Minderheiten um?
Ausgrenzung und Diskriminierung entsteht auch über Sprache. Gedanken werden zu Worten und Worte werden zu Taten.
Wie wollen wir in der Zukunft als Gesellschaft miteinander leben? Gehen wir aus den letzten 2,5 Jahren als Gesellschaft gestärkt hervor? Haben wir die Kraft, Fehler aufzuarbeiten, Brücken zu bauen und anderen Menschen zu verzeihen? Wir brauchen dringend eine gesellschaftliche Aufarbeitung der letzten Jahre. Natürlich auch rechtlich, aber vor allem aus soziologischer Sicht. Das Schlimmste was uns allen passieren kann, ist das morgen alles vorbei ist und wir wieder zum Regelbetrieb übergehen, ohne eine gemeinsame Aufarbeitung, ohne das Öffnen von Debattenräumen, ohne einen gesellschaftlichen Diskurs.
Es ist in den letzten Jahren viel gesagt worden, auch schon vor Corona. Viele Äußerungen waren nicht nur strafrechtlich relevant, sondern vor allem einer Demokratie unwürdig. Der öffentliche Aufschrei der Mehrheitsgesellschaft blieb leider aus.
Ich bin enttäuscht von vielen vermeintlichen Demokraten, Intellektuellen und Humanisten, ich bin enttäuscht vom mündigen und kritischen Bürger.
Es kamen sprachliche Mechanismen zur Anwendung, ob bewusst oder unbewusst, ob aus Angst oder Unwissenheit, welche wir seit langem hätten überwinden müssen. Ich dachte, dass wir diese Mechanismen überwunden hätten.
Unsere Demokratie, unsere moralischen Wertvorstellungen und unsere Werte scheinen aus einer dünnen Schicht der Zivilisation zu bestehen.
In den letzten Jahren siegte sprachlich oft der Hang zum Totalitarismus. Worte wie „Volksfeind“, „Volksschädling“ oder „Blinddarmfortsatz“, Äußerungen wie sinngemäß „kann man ja nicht nach Madagaskar verfrachten“ oder in einem anderen Kontext „der Genpool unseres Volkes ist gesichert“, stammen nicht aus dieser Zeit und sind einer Demokratie und einem Rechtsstaat unwürdig.
Natürlich ist mir bewusst, dass wir aktuell viele Herausforderungen in Bezug auf unsere demokratischen Strukturen und unseren Rechtsstaat haben. Wir müssen anfangen an den Ursachen für Ausgrenzung und Diskriminierung zu arbeiten, nicht an den Symptomen. Wir müssen anfangen Toleranz als Wert zu leben, dabei die Psychologie der Werte beachten und Toleranz nicht nur als Schlagwort zu benutzen. Wir dürfen Solidarität nicht rein als Kampfbegriff verwenden. Wir müssen wieder mehr aufeinander zu gehen.
Seit über 70 Jahren haben wir ein Grundgesetz im Verfassungsrang. Lasst uns wieder gemeinsam unsere Grundwerte mit Leben füllen, totalitäre Mechanismen und Strukturen friedlich bekämpfen und einander die Hände reichen. Überlassen wir Extremisten und Verfassungsfeinden, egal ob von innen oder von außen, nicht das Feld.
Seid Ihr dazu bereit?
Dieser Weg wird schwierig sein, er wird viel Kraft kosten und es wird Rückschläge geben. Meiner Meinung nach ist dieser Weg aber die einzige Möglichkeit, aus den letzten Jahren als Gesellschaft gestärkt hervorzugehen und wieder als Gesellschaft miteinander leben zu können, ohne Ausgrenzung und ohne Diskriminierung Andersdenkender und mit einer wirklichen Meinungsfreiheit im Sinne des Schutzbereichs von Artikel 5 Absatz 1 GG.
Ich begebe mich gerne mit Euch gemeinsam auf diesen Weg.
Lasst uns gemeinsam auf die Zukunft und die nächsten Herausforderungen vorbereiten. Aufgeben ist keine Option.
Vergesst bei unserer gemeinsamen Reise aber bitte niemals: Die Würde des Menschen ist unantastbar, der Mensch ist Subjekt, nicht Objekt staatlichen Handelns.