Aus für Teil der Kritischen Kriminologie

Das Aus für einen wichtigen Teil der institutionalisierten Kritischen Kriminologie in Deutschland

Zum Wintersemester 22/23 können sich zum wahrscheinlich letzten Mal Studentinnen und Studenten an der Universität Hamburg für den Studiengang Internationale Kriminologie immatrikulieren. Es handelt sich um einen aufbauenden Masterstudiengang (Master of Arts) mit einer Regelstudienzeit von vier Semestern. Nach dem Wintersemester soll der Masterstudiengang nach der jetzigen Planung auslaufen.

Aber was ist Kriminologie überhaupt und welche Bedeutung hat diese empirische Wissenschaft für die Untersuchung von gesellschaftlichen Entwicklungen?

Auf der Homepage der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg, Fachbereich Sozialwissenschaften, Fachgebiet Kriminologische Sozialforschung, findet sich die folgende Kurzbeschreibung des Begriffes Kriminologie:

„Kriminologie ist die Disziplin, die Gesellschaft von ihren Rändern und Abgründen, den Verletzungen und Bedrohungen her betrachtet. Hier zeigen sich genuin soziale Prozesse der Grenzziehung und Differenzierung, Ein- und Ausschließung, Normalisierung und Stabilisierung sowie der Herstellung von Ordnung und Recht. In den vermeintlichen Extremen, die wir Terrorakte, Hate Crime, Flüchtlingskrise nennen, und den politischen Antworten, die sie nach sich ziehen, zeigt sich, was Gesellschaft „ist“ und wie sie sich herstellt. Im Zentrum kriminologischen Interesses stehen in diesem Sinne Fragen gegenwärtiger wie zukünftiger Sozialität unter Bedingungen der Unsicherheit und radikaler Ungewissheit.“

Als viersemestriger Masterstudiengang, angesiedelt an einer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, ist dieses Studienangebot an der Universität Hamburg deutschlandweit einmalig und steht für den wissenschaftlichen Teilbereich der Kritischen Kriminologie. Weitere Teilbereiche sind die Kriminalpolitische Kriminologie und die Angewandte Kriminologie.

So existiert zwar an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Greifswald ein Lehrstuhl für Kriminologie, Strafrecht, Strafprozessrecht und vergleichende Strafrechtswissenschaften, ein eigenständiger Masterstudiengang wird aber nicht angeboten. Der Lehrstuhl gehört außerdem zu den Lehrstühlen für Strafrecht, Fachbereich Rechtswissenschaften. Neben der Universität Greifswald verfügt auch die Ruhr-Universität Bochum über einen Lehrstuhl für Kriminologie. Hier kann ein Master of Criminology, Criminalistics and Police Science erworben werden. Allerdings gehört auch dieser Lehrstuhl zu den Lehrstühlen für Strafrecht und ist an der Juristischen Fakultät angesiedelt. Die Master-Studentinnen und Studenten müssen vor der Zulassung über ein bereits abgeschlossenes und geeignetes Fach- oder Hochschulstudium verfügen. In Frage kommen hier u.a. Jura, Soziologie, Psychologie, Medizin (Psychiatrie), Pädagogik und Soziale Arbeit. Zusätzlich werden auch Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger, sowie Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte nach Abschluss des dualen Studiums zugelassen. Darüber hinaus müssen die Bewerberinnen und Bewerber über eine mindestens einjährige einschlägige Berufserfahrung verfügen. Ergänzend sei noch der Masterabschluss in Kriminologie und Gewaltforschung an der Universität Regensburg erwähnt. Auch dieser ist der Fakultät für Rechtswissenschaften angegliedert. Das letzte Studienangebot Kriminologie mit einem Masterabschluss zu studieren, bietet wiederrum die WiSo-Fakultät der Universität Hamburg an. Neben dem bereits eingangs erwähnten Masterstudium, handelt es sich hierbei um einen dreisemestrigen berufsbegleitenden Weiterbildungsmaster. Auch bei diesem Studium müssen die angehenden Master-Studentinnen und Studenten Zulassungsvoraussetzungen erfüllen. Sie müssen nach Beschreibung der Universität Hamburg aus „kriminologisch einschlägigen Arbeitsfeldern“ kommen und über einschlägige Berufserfahrung verfügen. Weitere Angebote der kriminologischen Ausbildung finden sich primär im Rahmen der juristischen und polizeiinternen Studiengänge.

Sollte der Masterstudiengang Internationale Kriminologie an der Universität Hamburg wirklich nach dem Wintersemester 22/23 abgeschafft werden bzw. keine weitere Immatrikulation mehr möglich sein, dann entsteht eine nicht mehr zu füllende Lücke innerhalb der kriminologischen Forschung und insbesondere im Teilbereich der Kritischen Kriminologie in Deutschland.

Als Gründe für die Abschaffung des Studienganges gibt die Universität Hamburg perspektivisch fehlende Lehrkapazitäten an, da altersbedingt zwei hauptamtlich Tätige ausscheiden. Diese Stellen sollen nach der jetzigen Planung nicht nachbesetzt werden, da „[…] das Budget bereits anderweitig verplant wurde aufgrund strategischer Entscheidungen“. Das Hamburger Abendblatt berichtete unter dem Titel „Master Kriminologie steht vor dem Aus – Geld für Lehre fehlt“ über diesen Sachverhalt am 25.01.2022. Die strategischen Entscheidungen bleiben dabei nebulös.

Leider war die Programmdirektorin Frau Professorin Christine Hentschel, Professur für Kriminologie, insbesondere Sicherheit und Resilienz, an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät, Fachbereich Sozialwissenschaften, Kriminologische Sozialforschung, der Universität Hamburg für eine Stellungnahme telefonisch nicht erreichbar. Laut dem Hamburger Abendblatt äußerte sich Frau Professorin Christine Hentschel auf Twitter zu dem Sachverhalt und äußerte, dass es seit Langem für den Studiengang zu wenig Personal und Geld gebe. Dies ist umso verwunderlicher, da es dem Studiengang nicht an Studentinnen und Studenten fehlte.

Die Universität Hamburg führt zu den Forschungen in der Kriminologischen Sozialforschung das Folgende aus:

„Die Forschungen im Fachgebiet setzen an der Frage an, welche Formen der Subjektivierung und welche Arten von Kollektivitäten aus der Bewältigung von Unsicherheit oder Ungewissheit hervorgehen. Drei Fluchtpunkte sind für uns zentral, die wir vornehmlich in Perspektiven der Affekttheorie, Gouvernementalität, Visual Analysis, Science and Technology Studies oder einer politischen Soziologie des Wissens in den Blick nehmen: Wie erfindet sich Demokratie in der Verhandlung von gesellschaftlichen Problemen, Gefährdungen und Schützenswertem, Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit immer wieder neu und wie setzt sie sich dabei ins Verhältnis zu Recht und Rechtsstaatlichkeit? Wie ermöglichen und produzieren Gesellschaften ihre eigene Radikalisierung? Wie identifizieren Wissenspraktiken abweichendes oder verdächtiges Verhalten, Gefahren oder Bedrohungen und modulieren Gesellschaft über die Zukunft?“

Gerade in Bezug auf die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen, insbesondere der letzten zwei Jahren, sind diese Forschungen und Fragestellungen von erheblicher Bedeutung.

Die Reaktionen auf die Entscheidung ließen nicht lange auf sich warten. So wurde bereits am 01.02.2022 unter dem Titel „Stellungnahme zum drohenden Aus der Kriminologie an der Universität Hamburg“ auf dem Blog Criminologia eine Stellungnahme veröffentlicht.  

Hauptsorgen der Autorinnen und Autoren sind:

„Eine Beendigung des Studienganges […] würde bedeuten, dass ein Zentrum der soziologisch orientierten Kriminologie in Deutschland aufgelöst würde. Dann würde Kriminologie fast nur noch als ein Nebenfach […] in juristischen Studiengängen oder an Polizeiakademien vertreten sein – und somit auch nur ein eingeschränkter Zugang zu diesen Inhalten bestehen. Bis heute ist der Studiengang in Hamburg bundesweit der einzige interdisziplinär und international ausgerichtete Kriminologie-Studiengang, der institutionell und damit eben auch perspektivisch in den Sozialwissenschaften verankert ist. […] Die sozialwissenschaftliche Kriminologie der Universität Hamburg beschäftigt sich mit der gesellschaftstheoretischen Kontextualisierung von Kriminalität […]. Angesichts der derzeitigen Spaltungen unserer Gesellschaft wird eine sozialwissenschaftlich fundierte, kriminologische Perspektive, die diese Entwicklungen kritisch reflektiert, dringend benötigt. Auch die kritische Reflexion von Rechtsgenese und -anwendung, […] sowie wissenschaftliche Diskurse über jegliche Form von Gewalt, gesellschaftliche Sicherheit, auch über die Arbeit der Kontrollinstanzen des Staates darf nicht allein strafverfolgungsbezogenen Disziplinen überlassen werden.“

Mehr als 350 Erstunterzeichnerinnen und Erstunterzeichner haben diese Stellungnahme unterzeichnet, darunter viele namenhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler u.a. der kriminologischen Fachöffentlichkeit.

Auch die Kriminologische Gesellschaft (KrimG), vertreten durch Herrn Prof. em. Dr. iur. Hans-Jürgen Kerner, hat diese Stellungnahme unterzeichnet.  

Die Frage, ob diese bereits erwähnten strategischen Entscheidungen eine politische oder ideologische Komponente aufweisen bleibt offen. Offen bleibt auch die Frage, ob diese Entscheidung wirtschaftlich mit der Ausrichtung der Universität Hamburg als Exzellenzuniversität mit Schwerpunkten wie Klima- und Infektionsforschung zusammenhängt.

Die Universität Hamburg versicherte allerdings, dass es bis 2028 Lehrveranstaltungen „in ausreichendem Umfang“ geben wird. So ist aktuell mindestens dafür gesorgt, dass alle Studentinnen und Studenten ihren Masterabschluss erwerben können. Hoffen wir, dass diese verbleibende Zeit auch für weitere Forschungen im Teilbereich der Kritischen Kriminologie genutzt werden kann.