War die Fesselung von Herrn Reuß am 07. Dezember 2022 rechtmäßig?
Sachverhalt
Am 7. Dezember 2022 fand eine Großrazzia gegen die sogenannten Reichsbürger in elf Bundesländern statt. Beteiligt an der Aktion waren nach den Berichterstattungen rund
3000 Polizisten einschließlich verschiedener Spezialkräfte. Diese stürmten Wohnungen und nahmen 25 Personen fest. Zu den Menschen, gegen die intensiv ermittelt wird, gehört der 71-jährige Prinz Heinrich XIII. Reuß. Die Bilder seiner Festnahme in Frankfurt/Main waren in nahezu allen Leitmedien zu sehen. Er wurde gefesselt aus dem Haus geführt und ins Polizeiauto gesetzt.
Es erreichten mich einige Fragen von Freunden, wie ich denn die Festnahme von Herrn Reuß rechtlich einstufen würde. Die strafrechtlichen Vorwürfe, die eingriffsrechtlichen Grundmaßnahmen einschließlich der Verhältnismäßigkeit sowie der Grund für den Erlass des Haftbefehls können von mir nicht gewürdigt werden. Hierzu gibt es für mich zu wenige Informationen. Gerne nehme ich jedoch zum Thema der Fesselung rechtlich Stellung und hoffe, dass sich der Leser zu dem genannten polizeilichen Geschehen sein Urteil bilden kann.
Generelles zum unmittelbaren Zwang und der Fesselung von Menschen
Unmittelbarer Zwang ist nach herrschender Lehre generell das letzte Mittel zur Durchsetzung einer polizeilichen Maßnahme. Das polizeiliche Gegenüber sollte vor der Zwangsanwendung, sofern die Einsatzsituation das insbesondere in zeitlicher Hinsicht zulässt, die Möglichkeit des „Rechtsgehorsams“ (Befolgung der polizeilichen Maßnahmen im Strafverfahrensrecht oder Gefahrenabwehrrecht) erhalten, so dass auf eine Zwangs-anwendung verzichtet werden kann.
Die Handfessel gehört zu den Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt (HdkG). Diese dienen dazu, die körperliche Gewalt des handelnden Polizeibeamten ggü. dem Adressaten der polizeilichen Maßnahme zu unterstützen, zu verstärken oder zu ersetzen. Die Aufzählung der HdkG in den Polizeigesetzen ist im Gegensatz zu den Waffen nicht abschließend. Im Einsatzfall kann der handelnde Beamte auch andere Gegenstände als HdkG einsetzen. Auch unkonventionelle Mittel wie zum Beispiel Gürtel, Krawatten und Kabelbinder können zweckentfremdet zur Anwendung kommen. Es gilt aber der Grundsatz: Zuerst die dienstlich gelieferten Hilfsmittel der körperlichen Gewalt einsetzen, dann ggf. andere Hilfsmittel hinzuziehen. Beispiel: Beamte nehmen einen Kampfsportler fest. Obwohl es den Polizisten gelingt, ihn an den Händen zu fesseln, tritt der Mann in geübter Weise um sich. Er wird zu Boden gebracht, dann werden Kabelbinder um seine Beine gebunden.
Die Fesselung ist in den Polizeigesetzen bewusst gesetzlich festgelegt worden, um Willkür im polizeilichen Vorgehen auszuschließen. In polizeilichen Bagatellsituationen sollen keine Fesselungen vorgenommen werden.
Die Wirkung einer Fesselung ist als recht hoch einzustufen. Einerseits wird damit die Bewegungs- und Handlungsfreiheit des Adressaten eingeschränkt, andererseits wird mit dieser Maßnahme auch ein deutliches Signal an den Gefesselten, aber auch an Dritte gesetzt. Spektakuläre Festnahmen finden meist ihre Berichterstattung durch Fotos und Filmaufnahmen. Ein mit Handfesseln fixierter Mensch könnte sich durchaus einer gewissen Erniedrigung, Entehrung oder Vorverurteilung ausgesetzt sehen.
Der fesselnde Beamte weiß gleichwohl durch seine Ausbildung sowie mit seiner Lebens- und Berufserfahrung, dass die Fesselung von Straftätern und Störern in vielen Fällen zwingend notwendig ist. Eine Flucht soll unterbunden oder/und eine Gefahrensituationen verhindert bzw. unterbrochen werden. Damit sollen Menschen, die durch ihr Verhalten eine Gefahr für sich oder andere darstellen könnten oder sich dem Strafverfahren entziehen wollen, mit einem reduzierten Risiko in polizeiliche Obhut genommen oder gehalten werden. Eine Fesselung ist immer dann zulässig, wenn andere, weniger einschneidende Zwangsmaßnahmen (voraussichtlich) nicht zum Erfolg führen.
Rechtliche Voraussetzungen für eine Fesselung
Es werden hier für die Fesselung die gesetzlichen Voraussetzungen des Landes Berlin, benannt im UZwG Berlin, aufgeführt. Diese sind inhaltlich deckungsgleich mit den rechtlichen Voraussetzungen aus den Polizeigesetzen der anderen Bundesländer sowie der Bundespolizei. Lediglich in den textlichen Ausgestaltungen gibt es Abweichungen.
§ 20 UZwG Berlin: Fesselung von Personen
(1) Personen, die im Gewahrsam von Vollzugsbeamten sind, dürfen gefesselt werden, wenn
a) die Gefahr besteht, dass sie Personen angreifen, Sachen beschädigen oder tätlichen Widerstand leisten;
b) sie zu fliehen versuchen oder besondere Umstände die Besorgnis begründen, dass sie sich aus dem Gewahrsam befreien werden oder von anderen Personen befreit werden sollen;
c) die Gefahr dar Selbsttötung oder der Selbstbeschädigung besteht.
Gewahrsam im Sinne des § 20 UZwG Berlin meint sowohl freiheitsentziehende als auch eine freiheitsbeschränkende Maßnahmen nach allen in Frage kommenden Gesetzen. Das heißt, dass es eingriffsrechtliche Gründe gibt, dass sich der Mensch langfristig oder nur vorübergehend nicht frei bewegen darf.
Der Begriff dürfen verweist auf das pflichtgemäße Ermessen bei der Frage, ob die Handfessel bei dem Adressaten der polizeilichen Maßnahme angelegt wird oder nicht. Die agierenden Polizisten sind bei Freiheitsentziehungen und -beschränkungen nicht verpflichtet, die jeweilige Person zu fesseln. Es dürfen bei der Entscheidung für ein Pro oder Contra einer Fesselung keine sachfremden Erwägungen zur Anwendung kommen. Es hängt im Einzelfall davon ab, um was für einen Menschen es sich bei dem polizeilichen Gegenüber handelt, wieviel Polizisten sich am Einsatzort befinden und wie sie in der Lage sind, die Situation mit der jeweiligen Person situationsgerecht durchzuführen. So könnten beispielsweise zwei junge durchtrainierte Polizisten eine Festnahme nur in der Form durchführen, dass sie den Festgenommenen am Arm zum Einsatzwagen führen, während zwei Kollegen „Ü50“ gleich mit dem Beginn der Freiheitsentziehung die Handfessel bei dem Adressaten anlegen.
Zu § 20 (1) a) UZwG Berlin:
Hier wird die Zulässigkeit der Fesselung von Personen, die aktiv und aggressiv sind bzw. sein könnten, beschrieben. Sie verhalten sich so, dass sie andere Personen oder fremdes Eigentum gefährden. Hierzu zählt der (eventuell zu erwartende) Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte bzw. die generelle Möglichkeit eines Angriffs gegen nicht zur Polizei gehörenden Menschen. Nur mit einer Fesselung kann die potentiell erkannte Gefahr oder der stattfindende Angriff abgewendet werden. Es geht um die Unterbindung und Verhütung von Gefahren für andere Menschen und Sachen sowie die Verhinderung von Straftatbeständen.
Wenn der Angriff nicht schon erfolgt ist, muss der am Einsatz beteiligte Polizist eine Gefahrenprognose vornehmen. Welches sind die Tatsachen, die dem Beamten für die Einschätzung der Aggressivität vorliegen? Woraus nimmt er seine nachvollziehbaren Schlussfolgerungen? Was sind die Fakten, dass ein Angriff oder eine Widerstandshandlung zu erwarten ist?
Zu § 20 (1) b) UZwG Berlin:
Bei dieser Regelung geht es um die Sicherung des bestehenden Gewahrsams gegenüber dem Betroffenen. Er soll sich nicht aus der Obhut der Polizei befreien können bzw. befreit werden. Da die gefesselte Person sich noch nicht in einem gesicherten Gewahrsamsraum befindet, soll ihn die Fesselung in seiner Bewegungsfähigkeit einschränken. Und die Fesselung hat so lange anzudauern, bis die betroffene Person sicher verwahrt werden kann.
Die Fesselung ist zulässig, wenn Anhaltspunkte für eine Selbstbefreiung vorliegen. Diese sind schon gegeben, wenn der Betroffene seinen ersten Fluchtversuch absolviert hat. Liegt dieser noch nicht vor, müssen die einschreitenden Beamten die besonderen Umstände für eine Besorgnis der Fluchtabsicht prüfen. Der in Gewahrsam Genommene möchte („schickt sich an“) fliehen, trifft dafür die Vorbereitungen, nimmt Kontakt zu potentiellen Helfern auf und dergl. Aber auch der Einsatzort ist für die Beurteilung der Situation und die anschließende Entscheidung bedeutend (einfache Fluchtmöglichkeit, unübersichtliches Gelände, Hauptverkehrsstraße …). Die offensichtliche bessere Gewandtheit und Schnelligkeit des Adressaten ggü. den einschreitenden/begleitenden Beamten können zudem ein Faktor für den Entschluss zur Fesselung sein.
Möglich ist außerdem die Einwirkung von außen, also eine sich abzeichnende Möglichkeit einer Befreiung des Betroffenen durch andere Personen, die eine Fesselung rechtfertigen kann. Kriterien hierfür können sein: Örtlichkeit („Problemviertel“), Verhalten anderer Personen bzw. Gruppen ggü. der Polizei und der in Gewahrsam befindlichen Person und dergl. Die Betroffene wird demnach gefesselt, damit er den Polizisten nicht entrissen werden kann.
Zu § 20 (1) c) UZwG Berlin:
Diese Befugnis dient dem Schutz des Betroffenen, damit er sich keinen Schaden zufügt. Der klassische Fall ist die Suizidabsicht oder der Wille zur Selbstverstümmelung. Die Bewegungsfreiheit des Betroffenen soll mit der Fesselung so weit eingeschränkt werden, dass weitere Situationen der Selbstgefährdungen ausgeschlossen sind. Die Polizisten haben zu beachten, dass sie sich im Einsatzfall in einer Garantenstellung befinden und nun für die Verhinderung einer Selbstgefährdung zu sorgen haben.
Was äußert der Gefangene? In welchem Zustand befindet er sich? Wo halten sich die Beamten mit ihm gerade auf? An welche Gegenstände kommt er heran? Wie verhält er sich insgesamt? Will er sich eventuell anderen Rettungskräften entziehen? Diese und weitere Fragen spielen für die Entscheidung zur Fesselung oder Nichtfesselung eine Rolle.
Die sich aus dem Einsatz am 7.12.2022 in Frankfurt ergebenden Fragen/Anmerkungen
Die Polizeibeamten, die Herrn Reuß in dem Haus in Frankfurt/Main festgenommen haben und zum Einsatzwagen brachten, müssen zumindest einen rechtlichen Grund zur Fesselung erkannt haben. War Herr Reuß gegenüber den Beamten aggressiv, drohte er mit einem Angriff? Wenn ja, wäre dieser nicht angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der jungen und durchtrainierten Beamten auch ohne ein Anlegen der Handfessel im Keim zu ersticken gewesen? Hätte hier eventuell nicht auch eine klare Ansage an den Festgenommenen ausgereicht? Oder wollte der 71-Jährige gar vor den Polizisten wegrennen? Das dürfte allein schon aufgrund des Alters von Herrn R. auszuschließen sein. Oder sollte er von Freunden befreit werden? Die Bilder vom Einsatzort zeigten nicht, dass auf der Straße Sympathisanten von ihm gewartet haben. Oder hatte Herr R. noch in seinen Taschen einen Gegenstand, mit dem er sich hätte verletzen können? Das dürfte auszuschließen sein, wenn die Polizisten ihn mit dem Erstkontakt allein schon aus Gründen der Eigensicherung durchsucht hätten.
Wie war also das Anlegen der Handfessel gesetzlich zu rechtfertigen?
Unzulässig ist auf jeden Fall eine Fesselung einer Person als bloße Maßnahme der Demütigung oder des Vorführens gegenüber der Öffentlichkeit. Allein das verbietet schon die sich aus Artikel 1 (1) GG ergebende Würde des Menschen.
Medien waren im Voraus über die Aktion informiert und an den Einsatzorten anwesend. War das alles auch eine Inszenierung für die so hergestellte Öffentlichkeit? Die politisch Verantwortlichen, die ermittelnden Staatsanwälte und die Polizisten setzten offenbar auf starke Bilder und Signale. Diese entfalteten schnell ihre Wirkung. Wer so wie Herr Reuß abgeführt wird, dürfte in seiner Reputation beschädigt sein. Damit einher gehen Zeichen, die auch zum Ausschluss aus den vertrauten gesellschaftlichen Kreisen führen könnten, selbst dann, wenn später das Ermittlungsverfahren eingestellt wird oder im Gerichtsverfahren ein Freispruch erfolgt. Eine öffentlich erzeugte Vorverurteilung ist für den Betroffenen keine Bagatelle.
Jede Zwangsmaßnahme muss sich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit seinen Punkten der Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) und dem zeitlichen Übermaßverbot messen lassen. Auch diesbezüglich müssten die Polizisten die Fesselung begründen.
Ergänzung
Herr Reuß hatte im Gegensatz zu den Polizisten einen Mund-Nasen-Schutz auf. Hat er diesen freiwillig aufgesetzt, weil er Angst vor einer Infektion hatte? Vielleicht war er selbst infiziert und wollte für andere das Risiko einer Ansteckung reduzieren. Oder haben die Polizisten das Aufsetzen des MNS angeordnet und es sogar zwangsweise durchgesetzt? Wenn ja, dann wäre hierfür eine gesonderte gesetzliche Ermächtigung notwendig. Diese ließe sich nur aus der Befugnisgeneralklausel (in Berlin § 17 (1) ASOG) herleiten, wobei die Voraussetzung das Vorliegen einer konkreten Gefahr gewesen wäre. Wie diese im vorliegenden Einzelfall zu begründen gewesen wäre, weiß ich nicht, zumal Herr Reuß ja als Einziger am Einsatzort die Maske trägt. Es bleibt zu hoffen, dass er mit einer derartigen Maßnahme nicht zusätzlich gedemütigt und zum Objekt eines staatlichen Handelns gemacht werden sollte.
Abschließende Bemerkungen
Die strafrechtlichen Ermittlungen müssen rechtsstaatlich einwandfrei geführt werden, woran ich keine Zweifel habe. Ob die Fesselung von Herrn Reuß als rechtmäßig einzustufen ist oder nicht, kann hier abschließend festgestellt werden. Die Bilder aus Frankfurt hätten zumindest für kritische Nachfragen durch Politiker und Pressevertreter ausreichen müssen. Auch Straftäter müssen sich auf ein rechtlich korrektes Verhalten der Sicherheitskräfte einschließlich der Wahrung der Menschenwürde verlassen können. Belassen möchte ich es bezüglich der Form der Festnahme einschließlich der Anwesenheit der Medienvertreter mit einem Satz aus dem 2. Akt des Stücks „Torquato Tasso“ von Johann Wolfgang von Goethe: „So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt.“
Arvid Kappelt