Schusswaffengebrauch gegen Montagsspaziergänger?
Schusswaffengebrauch gegen Montagsspaziergänger? -Anmerkungen zur Allgemeinverfügung der Stadt Ostfildern-
Am 26. Januar 2022 erließ die Stadt Ostfildern eine Allgemeinverfügung hinsichtlich der Untersagung von sogenannten Montags- bzw. Abendspaziergängen. Diese Form des Verwaltungsakts sorgte für eine besondere Aufmerksamkeit, weil in den ergänzenden Hinweisen auf alle Mittel des unmittelbaren Zwangs hingewiesen wurde.
Allgemeinverfügung:
- Die Teilnahme an allen öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel auf der Gemarkung der Stadt Ostfildern, die mit generellen Aufrufen zu „Abendspaziergängen“, „Montagsspaziergängen“ oder „Spaziergängen“ in Zusammenhang stehen, nicht angezeigt sind und gegen die Regelungen der Corona-Verordnung gerichtet sind, wird an allen Wochentagen untersagt.
- Für den Fall der Nichtbeachtung des Verbots nach Ziffer 1 wird die Anwendung unmittelbaren Zwangs angedroht.
(…)
Ostfildern, 26. Januar 2022
Christof Bolay
Oberbürgermeister
In der folgenden Begründung fand sich nach umfangreicher Schilderung der aktuellen Situation, verbunden mit einer sich aus den Montagsspaziergängen ergebenen Gefahren-analyse, diese Passage:
„Um sicherzustellen, dass das Versammlungsverbot eingehalten wird, wird die Anwendung unmittelbaren Zwangs, also die Einwirkung auf Personen durch einfache körperliche Gewalt, Hilfsmittel der körperlichen Gewalt oder Waffengebrauch angedroht. Dies ist nach Abwägung der gegenüberstehenden Interessen verhältnismäßig. Es ist erforderlich, da mildere Mittel, die die potenziellen Versammlungsteilnehmer von der Durchführung der verbotenen Versammlungen abhalten würden, nicht ersichtlich sind. (…) Die Androhung des unmittelbaren Zwangs ist angemessen, da die negativen Auswirkungen für den Betroffenen nicht erkennbar außer Verhältnis zu Schutzgut körperliche Unversehrtheit der Passanten und anderen Versammlungsteilnehmer steht.“
Besonders in alternativen Medien wurde der Hinweis auf die Möglichkeit des Waffen-gebrauchs bzw. dessen Androhung kommentiert und diskutiert. Allgemein ging man davon aus, dass damit der Gebrauch der Schusswaffen durch die am Einsatz beteiligten Polizeibeamten gemeint war. Zu den dienstlich gelieferten Waffen gehören allerdings auch die Hiebwaffen, also die von der Polizei genutzten Schlagstöcke.
Die Allgemeinverfügung (im folgenden AV benannt) für die Stadt Ostfildern einschließlich der Androhung von Zwangsmitteln entspricht dem Standard von AV, die aus vielen Gründen erlassen werden können. Ob in anderen Fällen hinsichtlich des Verbots von Abend-spaziergängen auch schon einmal alle Mittel des unmittelbaren Zwangs, also die körperliche Gewalt, die Hilfsmittel der körperlichen Gewalt und die Waffen in den ergänzenden Hinweisen benannt wurden, lässt sich nicht ausschließen. Gleichwohl bekommt mit der ausdrücklichen Nennung der Waffen in den ergänzenden Angaben diese Information für den Leser und damit auch für die potentiellen Teilnehmer der Abendspaziergänge „eine besondere Note“.
Die körperliche Gewalt (der im Gesetzestext und oft auch in Sprachform verwendete Zusatz „einfache“ ist überflüssig; es gibt ja auch keine schwierige körperliche Gewalt) umfasst alle Formen, mit denen ein Polizeibeamter mit seinen körperlichen Möglichkeiten auf Personen oder Sachen einwirken kann. Gegenüber Menschen kommen zum Beispiel in Betracht: Griff an den Arm oder Körper, Schubsen, Schieben, Anheben, Tragen, Judogriffe, Boxhiebe, Tritte usw.
Zu den Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt gehören Handfesseln, Reizgas, Diensthunde, Dienstpferde, Dienstfahrzeuge, Wasserwerfer, technische Sperren u. a. Diese sollen die Möglichkeiten der körperlichen Gewalt ergänzen, so dass das polizeiliche Ziel möglichst ohne schwerwiegende Verletzungen beim Adressaten erreicht werden kann.
Beim Einsatz des Schlagstocks als Hiebwaffe (viele Polizisten sind mit dem Tonfa ausgestattet) können die Folgen beim polizeilichen Gegenüber folgenreicher sein; schwere Verletzungen sind möglich. Dass der Gebrauch der Schusswaffe zum Tod oder zu schwersten Verletzungen führt, braucht nicht weiter erläutert werden. Ihr Einsatz unterliegt schlussfolgernd sehr engen rechtlichen Voraussetzungen. Im Bundesland Baden Württemberg sind diese in den §§ 67 und 68 Polizeigesetz benannt. Der Schusswaffengebrauch gegen Personen ist im polizeilichen Alltag glücklicherweise als absoluter Ausnahmefall zu sehen. Auch dessen Androhung (Warnschuss oder mündliche Androhung) ohne eine anschließende Schussabgabe kommt im Polizeidienst selten vor.
Als Träger des Gewaltmonopols des Staates obliegt es den Polizeikräften, unmittelbaren Zwang anzuwenden, was im Bundesland Baden-Württemberg im § 65 PolG verdeutlich wird: „Die Anwendung unmittelbaren Zwangs obliegt den Beamten des Polizeivollzugsdienstes.“. Das beinhaltet, dass nur die am Einsatz beteiligten Polizisten darüber entscheiden, ob und wie Zwang angewendet wird. Sowohl hinsichtlich des Ob als auch des Wie kann es zu einer Ermessenreduzierung bis auf Null kommen. Das heißt, dass dann unmittelbarer Zwang angewendet werden muss. Und ggf. kann sich aus dem Einsatzgeschehen ergeben, dass nur ein Einsatzmittel (zum Beispiel das Anlegen der Handfessel) zum Ziel führt. Ob und wie unmittelbarer Zwang angewendet wird, kann sich demnach ausschließlich aus der jeweiligen polizeilichen Situation ergeben.
Nach herrschender Rechtsauffassung muss in einem freiheitlichen Staat die unmittelbare Zwangsanwendung zur Erreichung des polizeilichen Ziels „Ultima Ratio“ sein. § 66 (1) PolG: „Unmittelbarer Zwang darf nur angewandt werden, wenn der polizeiliche Zweck auf andere Weise nicht erreichbar erscheint. (…)“ Damit wird durch die gesetzliche Formulierung klar, dass, bevor die Polizei unmittelbaren Zwang durchführt, alle anderen polizeilichen Mittel ausgeschöpft sein müssen. Alternative: Es ist von Anfang an erkennbar, dass weitere Möglichkeiten des polizeilichen Handelns nicht zur Erreichung des Ziels führen werden. Es bleibt den Beamten nur die sofortige Zwangsanwendung übrig. Der rechtmäßige unmittelbare Zwang setzt demnach stets eine Ermessenreduzierung voraus, ist also systemimmanent. Und er darf nicht Selbstzweck oder eine besondere Form der Bestrafung des polizeilichen Gegenübers sein.
Die körperliche Gewalt und die Hilfsmittel der körperlichen Gewalt enthalten in den Polizeigesetzen der Länder wenig konkrete Auslegungen. Ausführungsvorschriften und Kommentare beinhalten allerdings wertvolle Hinweise, die für die Lehre an den Polizeischulen und für die Praxis hilfreich sind. In der Gesamtheit ist festzuhalten, dass sich der unmittelbare Zwang am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Abkürzung: GdV; weitere Bezeichnung: Übermaßverbot) zu orientieren hat. Während die polizeiliche Grundmaßnahme (ein Verwaltungsalt oder ein Justizakt) im Rahmen der Rechtmäßigkeit der Amtsausübung bereits eine Prüfung des GdV enthalten muss, ist diese dann separat für die Zwangsanwendung vorzunehmen. Zu beachten ist weiter, dass die gesamte Dauer des unmittelbaren Zwangs der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit, den Unterpunkten des GdV, entsprechen muss. Wird z. B. die Anwendung des unmittelbaren Zwangs am Beginn des polizeilichen Handelns als verhältnismäßig eingestuft, kann es im Laufe des Einsatzes bei weiteren Zwangsanwendungen „kippen“. Das Übermaßverbot wird von den agierenden Polizisten evtl. nicht mehr gewahrt.
Die Polizei ist in ihrem konzeptionellen Handeln im gewissen Rahmen dem Primat der Politik unterworfen. Im Regelfall wird dieses vorgegeben bzw. umgesetzt durch das jeweilige Innenministerium. Das ändert indessen nichts an der zwingenden Beachtung der Rechtmäßigkeit der Amtsausübung, zu der auch das pflichtgemäße Ermessen und der GdV gehören, durch jeden einzelnen Polizisten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Einsatz, den ein Beamter auf seiner Fußstreife zu lösen hat oder um eine Großlage, an der über 1000 Polizisten beteiligt sind, handelt. Das bedeutet in der Konsequenz, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung eines Einsatzes verbunden mit der Anwendung von unmittelbarem Zwang einzig und allein Angelegenheit des/der agierenden Polizeibeamten ist. Dass Herr Bolay, Oberbürgermeister von Ostfildern, eine mögliche Zwangsanwendung in Form der körperlichen Gewalt, der Hilfsmittel der körperlichen Gewalt und der Waffen in einem polizeilichen Einsatz ggü. den Abendspaziergängern vorab als angemessen (sogenannte Zweck-Mittel-Relation) einstuft, dürfte denen, die sich im öffentlichen Recht auskennen, neu sein. Aus seinen Formulierungen kann sogar der Schluss gezogen werden, dass er die Voraussetzungen für den Fall eines polizeilichen Schusswaffengebrauchs gemäß der §§ 67 und 68 PolG bzw. dessen Androhung ggü. den Teilnehmern der nicht genehmigten Versammlungen erkennt und als verhältnismäßig einstuft.
Nun vermag niemand aus der Ferne zu beurteilen, wie gewalttätig die an den Abendspaziergängen teilnehmenden Bürger in Ostfildern wirklich sind. Es ist aber zu vermuten, dass sie bei weitem nicht das Gewaltpotential haben, was erfahrene Polizisten zum Beispiel von Teilen der linken Szene oder von anderen Gruppen aus Kiezbereichen der Großstädte kennen. Wenn von 140 Personen am 24. Januar 2022 in Ostfildern berichtet wird, die sich nicht so verhalten haben, wie Oberbürgermeister Bolay, die Kräfte der örtlichen Polizei sowie die des Ordnungsamts sich das vorstellen, dann können z. B. Polizisten in Berlin und Hamburg aus ihren Erfahrungen u. a. mit dem „Schwarzen Block“ nur milde lächeln. Keinesfalls rechtfertigt das Verhalten der Teilnehmer der nicht genehmigten Versammlung eine derartige vorgenommene Androhung des unmittelbaren Zwangs einschließlich der Hieb- und Schusswaffen. Einen solche vorab formulierte rechtliche Einordnung mit einer Art „Generallegitimation zur Zwangsanwendung“ für alle am Einsatz beteiligten Polizisten käme noch nicht einmal dem Polizeiführer bei der Einsatzbesprechung über die Lippen und fände auch keine Erwähnung in den Leitlinien zum entsprechenden schriftlichen Befehl.
Fazit: Herr Oberbürgermeister Bolay hat sich in seinen Begründungen zur AV vom
26. Januar 2022 bezüglich des unmittelbaren Zwangs etwas angemaßt, was nicht innerhalb seines Kompetenzbereichs liegt. Er erweckt zudem den Eindruck, dass mit seiner Billigung die Polizisten am Einsatzort alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel des unmittelbaren Zwangs einschließlich die der Hieb- und Schusswaffen gebrauchen werden, wenn die Bürger sich nicht rechtsgehorsam verhalten. Diese stellen sich zwangsläufig die Frage, wie weit der Staat gehen wird, um nicht angemeldete Versammlungen zu unterbinden. Die am polizeilichen Einsatz in Ostfildern bei Montagsspaziergängen beteiligten Polizisten werden mit Sicherheit die Ausführungen von Herrn Bolay richtig einzuordnen wissen und das Übermaßverbot so beachten, wie sie es gelernt und in der Praxis bisher umgesetzt haben.
Von Anton Tschechow stammt der Satz: „Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert.“ Hoffen wir, dass dieses „Theaterstück“ der Stadt Ostfildern bereits nach dem ersten Akt abgebrochen wird bzw. nicht erneut zur Aufführung kommt. Dann fällt auch kein Schuss.